Der Fisch mit dem Ring
„Englische Volksmärchen“ E. Diederichs Vlg. 1983
Es war einmal vor Zeiten ein mächtiger Baron im Nordland, der war ein großer Zauberer und wusste alles, was geschehen würde. Eines Tages nun, als sein kleiner Junge vier Jahre alt war, schaute er in das Buch der Geschicke, um zu sehen, was mit ihm geschehen würde. Und zu seiner Bestürzung fand er, dass sein Sohn ein Mädchen aus niederem Stande heiraten würde, das gerade in einem Haus im Schatten des Münsters von York geboren worden war. Der Baron wusste nun aber, dass der Vater des kleinen Mädchens sehr, sehr arm war und schon fünf Kinder hatte. Da ließ er sein Pferd bringen, ritt nach York und kam an dem Haus des Vaters vorbei. Er sah ihn traurig und bekümmert vor der Tür sitzen. Da stieg er ab, ging zu ihm hin und sagte: „Was ist Euch, guter Mann?“ Und der Mann sagte: „Ach, Euer Ehren, es ist so; ich habe schon fünf Kinder, und nun ist ein sechstes gekommen, ein kleines Mädchen, und wo ich das Brot herbekommen soll, um ihre Mäuler zu stopfen, das ist mehr, als ich sagen kann.“
„Lasst den Mut nicht sinken, guter Mann“, sagte der Baron. „Wenn das Euer Kummer ist, kann ich Euch helfen. Ich nehme das letzte Kleine zu mir, und Ihr müsst Euch darum keine Sorgen machen.“
„Dank Euch von Herzen, Herr“, sagte der Mann, und er ging hinein und brachte das Mädchen heraus, gab es dem Baron, und der stieg auf sein Pferd und ritt mit ihm fort. Und als er an das Ufer des Ouse-Flusses kam, warf er das kleine Ding in den Fluss und ritt fort zu seinem Schloss.
Aber das kleine Mädchen ging nicht unter, ihre Kleider hielten sie eine Zeit oben, und sie trieb dahin und trieb dahin, bis sie gerade vor der Hütte eines Fischers an Land geworfen wurde. Der Fischer fand sie da und hatte Mitleid mit dem armen kleinen Ding und nahm sie in sein Haus. Und da lebte sie, bis sie fünfzehn Jahre alt war und ein hübsches, feines Mädchen.
Eines Tages geschah es, dass der Baron mit einigen Gefährten an den Ufern des Ouse-Flusses jagen ging, und er hielt bei der Hütte des Fischers an, um etwas zu trinken zu bekommen, und das Mädchen kam heraus und gab es ihnen. Alle bemerkten ihre Schönheit, und einer von ihnen sagte zu dem Baron: „Baron, Ihr könnt die Geschicke erraten, was meint Ihr, wen wird sie heiraten?“
„Oh, das ist leicht zu erraten“, sagte der Baron, „irgend so einen Tölpel. Aber ich werde ihr das Horoskop stellen. Komm her, Mädchen, sag mir, an welchem Tag bist du geboren?“ „Ich weiß es nicht, Herr“, sagte das Mädchen, „ich bin gerade hier gefunden worden, als mich vor fünfzehn Jahren der Fluss hergebracht hat.“ Da wusste der Baron, wer sie war, und als sie aufbrachen, ritt er zurück und sagte zu dem Mädchen: „Höre, Mädchen, ich will dir zu deinem Glück verhelfen. Trage diesen Brief zu meinem Bruder in Scarborough, und es wird dir fürs Leben gut gehen.“
Und das Mädchen nahm den Brief und sagte, sie würde gehen. Was er in diesem Brief geschrieben hatte, war aber dies: „Lieber Bruder – nimm die Überbringerin und töte sie unverzüglich. Herzlich dein Humphrey.“ Kurz darauf brach also das Mädchen nach Scarborough auf, und über Nacht schlief sie in einer kleinen Herberge. Nun brach eben in dieser Nacht eine Räuberbande in den Gasthof ein, und sie durchsuchten das Mädchen. Das hatte kein Geld und nur den Brief. Da öffnenten sie den und lasen ihn und meinten, das wäre doch eine Schande. Der Räuberhauptmann nahm Feder und Papier und schrieb diesen Brief: „Lieber Bruder – nimm die Überbringerin und verheirate sie unverzüglich mit meinem Sohn.
Herzlich dein Humphrey.“ Und dann gab er ihn dem Mädchen und ließ sie gehen. So ging sie weiter zu dem Bruder des Barons nach Scarborough, der war ein edler Ritter, und der Sohn des Barons war gerade bei ihm. Als sie dem Bruder den Brief gab, befahl er, die Hochzeit sogleich auszurichten, und sie wurden noch am gleichen Tag verheiratet. Bald darauf kam der Baron selbst in das Schloss seines Bruders, und wie groß war seine Überraschung, als er sah, dass eben die Sache geschehen war, gegen die er seine Pläne gerichtet hatte. Aber er wollte sich nicht auf solche Art geschlagen geben, und er nahm das Mädchen mit auf einen Spaziergang, wie er sagte, entlang den Klippen.
Und als er mit ihr allein war, fasste er sie an den Armen und wollte sie hinabwerfen. Aber sie bat inständig um ihr Leben. „Ich habe nichts getan“, sagte sie, „und wenn Ihr mich nur verschonen wolltet, so tu ich, was immer Ihr auch wollt. Ich werde Euch oder Euren Sohn nie wiedersehen, bis Ihr es wünscht.“ Da zog der Baron seinen goldenen Ring ab und warf ihn ins Meer und sagte: „Lass mich niemals dein Gesicht wiedersehen, bis du mir diesen Ring vorzeigen kannst.“ Und dann ließ er sie gehen. Das arme Mädchen wanderte immer weiter, bis sie schließlich zum Schloss eines vornehmen Edelmannes kam, und da bat sie, man möge ihr doch irgendeine Arbeit geben. Und sie machten sie zum Spülmädchen im Schloss, denn sie war in der Fischerhütte an solche Arbeit gewöhnt gewesen.
Eines Tages nun, wen anderen sah sie da zum Haus des Edelmannes kommen als den Baron und seinen Bruder und seinen Sohn, ihren Ehemann! Sie wusste nicht was tun, aber sie dachte, sie würden sie in der Schlossküche nicht sehen. So ging sie mit einem Seufzer an ihre Arbeit zurück und begann einen mächtig großen Fisch sauber zu machen, der für das Mahl gekocht werden sollte. Und als sie ihn saubermachte, da sah sie innen drin etwas schimmern, und was meint ihr, was sie fand?
Nun, da war der Ring des Barons, eben der, den er über die Klippe bei Scarborough geworfen hatte. Sie war wirklich froh, ihn zu sehen, das könnt ihr glauben. Dann kochte sie den Fisch so fein sie konnte und richtete ihn her. Nun, als der Fisch auf den Tisch kam, schmeckte er den Gästen so gut, dass sie den Edelmann fragten, wer ihn gekocht habe. Er sagte, er wisse es nicht, aber er rief die Diener: „He, ihr da, schickt die Köchin, die diesen guten Fisch gekocht hat.“
Da gingen sie hinunter in die Küche und sagten dem Mädchen, sie werde im Saal gewünscht. Sie richtete sich her und steckte den goldenen Ring des Barons an ihren Daumen und ging hinauf in den Saal. Als die Festgäste solch eine junge und schöne Köchin sahen, waren sie überrascht. Aber der Baron geriet in höchsten Zorn und fuhr auf, als wolle er über sie herfallen. Da ging das Mädchen zu ihm hin und streckte ihm die Hand hin mit dem Ring darauf, und sie legte sie vor ihm auf den Tisch.
Da sah der Baron schließlich, dass niemand gegen das Geschick ankämpfen kann, und er führte sie zu einem Platz und gab der ganzen Gesellschaft bekannt, dass dies die rechte Frau seines Sohnes sei. Und er nahm sie und seinen Sohn mit sich nach Hause in sein Schloss, und sie lebten danach alle Zeit so glücklich, wie’s nur sein konnte.